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Was war das Ziel der Schöpfungsgeschichte in Genesis?

Inhaltsverzeichnis:

Wenn es um die Betrachtung alter Schriften geht, sind wissenschaftliche Genauigkeit und ein tiefgreifendes Verständnis für die Kulturen und Denkweisen der Vergangenheit unentbehrlich. Der Schöpfungsbericht der Bibel, insbesondere das erste Kapitel der Genesis, ist da keine Ausnahme.

Erst auf den zweiten Blick entfaltet sich die wahre Tiefe dieses antiken Textes, der über Jahrhunderte hinweg vieles in der westlich-religiösen Welt geprägt hat. Heute möchten wir daher einige gängige Annahmen hinterfragen, unseren Blick erweitern und dabei über den Horizont der materialistisch geprägten Moderne hinaussehen.

Stellen wir uns der Frage: Was genau wurde in Genesis 1 erschaffen und was bedeutet das Erschaffen an sich?

1. Die funktionelle Sicht des Schöpfens – Eine Reise von Material zu Funktion

Wenn du dir vorstellst, etwas zu erschaffen, ist deine erste Idee vielleicht, Material zu kombinieren und es in neue Formen zu bringen. Du denkst vielleicht an einen Stuhl aus Holz und Metall. Um jedoch den Schöpfungsbericht zu erfassen, müssen wir einen ganz anderen Weg einschlagen – von der Materie wegbewegen und hin zu einer Welt, in der Funktion und Rolle den Kern der Existenz bilden.

Das Wort "erschaffen" (hebräisch "bara") kann in der Tat irreführend sein, denn in der antiken Welt – wie auch heute noch – ist Schöpfung nicht auf die formende Handlung beschränkt, sondern meint oft die Zuweisung und Einbindung in ein funktionierendes System.

1.1. Genesis dekonstruiert: Eine funktionelle Ontologie?

Um den Schöpfungsbericht angemessen zu deuten, müssen wir den Begriff der Ontologie einführen, keine Angst, ist schnell erklärt. Der Begriff adressiert das Wesen und die Existenz von Dingen. Die Frage "Wann existiert etwas eigentlich?" kann damit auf spannende Weise neu interpretiert werden.

In unserer Moderne wird oft über eine materielle Ontologie gesprochen, d.h. ein Objekt "ist", wenn es aus Stoff besteht. So existiert der Stuhl durch sein Material.

Bei Entitäten wie Unternehmen sieht das anders aus: Ihre Existenz ist nicht allein durch materielle Güter definiert, sondern durch ihre Funktionen und Prozesse – Angebot, Nachfrage, Buchhaltung. Diese Sichtweise könnten wir als funktionelle Ontologie bezeichnen.

Genau hier setzt der renommierte Bibelwissenschaftler John Walton mit seinem Buch "The Lost World of Genesis One" an. In der antiken Welt, so Walton, existiere etwas nicht wegen seiner Materie, sondern wegen seiner Funktion in einem geordneten System.

Übrigens kann selbst in unserer heutigen Sprache "erschaffen" abseits von Materie verwendet werden – in der Kreation von Gedanken, Systemen oder Erfahrungen zum Beispiel.

2. Die kosmischen Funktionen der Schöpfungsgeschichte

Waltons Thesen sind revolutionär, wenn sie auf Genesis angewendet werden. Er behauptet, dass die Schöpfungsepisode die Einrichtung von Funktionen im Universum beschreibt, anstatt die Entstehung von Material.

Betrachten wir nun, wie genau die Schöpfung vollzogen wurde. Wenn wir den Text genau lesen und über John Waltons Konzept hinaus in andere antike Schöpfungsmythen blicken, wird klar, dass "erschaffen" in erster Linie "Funktionen zuweisen" hieß.

Hier geht es übrigens nicht darum "heidnische" Vorstellung als Maßstab zu nehmen, sondern einfach die Frage zu stellen, welches Weltbild in der damaligen Zeit über den Kosmos und die Prozesse darin der "Standard" war.

2.1. Beispiele aus anderen Kulturen stützen die These

Im Alten Ägypten und Babylonien, beides Kulturen mit tiefen Wurzeln und überraschenden Parallelen zur biblischen Erzählung, sehen wir nämlich ähnliche Muster. Schöpfungsgeschichten aus diesen Kulturen beginnen häufig mit einem Zustand des Chaos – repräsentiert durch wässriges Nichts, aus dem dann durch göttliches Eingreifen Ordnung und Funktion entstehen. "Erschaffen" meinte hier die Etablierung von regelmäßigen, sinnvollen Operationen, wie zum Beispiel die Bewegung der Himmelskörper oder die Jahreszeiten, und nicht die physische Herstellung der Elemente selbst.

3. Das theopolitische Weltbild 

Entgegen einer rein physischen Weltbetrachtung deutet Walton "erschaffen" als ein Prozess, in dem etwas seiner Bestimmung in einem gemeinschaftlichen und göttlichen Zusammenhang zugeführt wird. In diesem Licht werden sogar Nationen und Landschaften nicht durch geologische oder demografische Kriterien definiert, sondern v.a. durch ihre Rolle und Funktion im weiten Panorama des göttlichen Plans.

Indem wir die Genesis im Licht dieser funktionalen Ontologie lesen, bieten sich uns keine sperrige, wissenschaftlich-materielle Schilderungen der Weltentstehung, sondern ein tiefgehender, kultur- und glaubensbetonter Prozess göttlicher Zuweisung von Funktion und Ordnung. "Im Anfang" (hebräisch "Bereshit") steht demnach nicht für einen konkreten infinitesimalen Punkt, sondern markiert den Beginn einer neuen göttlich geordneten Zeitspanne, die Bestimmung des natürlichen und sozialen Universums betreffend.

Den bloßen Text der Bibel zu lesen, reicht möglicherweise nicht aus – so wie du und ich auf Übersetzer angewiesen sind, so gilt es als nächsten Schritt, die Weltsicht, Sprache, Kultur und das Selbstverständnis der Menschen jener Zeiten zu ergründen.

Die eine Voraussetzung (Übersetzer der Sprache) akzeptieren wir dabei leicht - aber auch ein Übersetzer für Kultur und Weltbild, also ein "Reiseführer" ist eine gute Sache, um sich im Ausland nicht daneben zu benehmen. Wenn ich mich also durch die Bibel bewege, sollte ich einen Reiseführer also nicht als unwichtig abtun!

Die Bereitschaft, die symbolische Sprache der antiken Texte und Mythen zu entschlüsseln, öffnet uns ein tieferes Verständnis für die unveränderlichen Themen, die schon seit Jahrtausenden die Menschheit beschäftigen: Warum sind wir hier? Was ist unser Auftrag? Wie gestalten wir den Kosmos, der uns umfängt? Die Antworten, Freunde der Weisheit, sind so viel mehr als die Summe seiner Teile.

Für weiterführende Lektüre und tiefergehendes Wissen zu den Themen und Autoren empfehle ich:

  • John H. Walton, "The Lost World of Genesis One" (Weitere Einblicke in Waltons Werk)
  • Texte und Mythen aus dem antiken Ägypten und Mesopotamien (Zusammenhänge zu Genesis 1)
  • Studien zur biblischen Hebräisch-Linguistik (Vertiefung des Verständnisses für die Sprache der Schöpfungsberichte)