Navigation überspringen
Austritt Ausschluss von christlich fundamentalen Gruppen

Wie fühlt man sich nach dem Austritt bzw. Ausschluss? Eine aktuelle Studie zum Thema.

Inhaltsverzeichnis:

Am 22.05.2022 wurden erste Ergebnisse einer Studie veröffentlicht, welche das Wohlbefinden von ehemaligen Mitgliedern "fundamentalistischer christlicher Glaubensgemeinschaften" untersucht hat. Die Studie unter der Leitung von Dr. Myriam V. Thoma untersuchte anhand von 622 Teilnehmenden das Befinden, so wie die Stresswiderstandskraft von Aussteigern bzw. Ausgeschlossenen folgender Gruppen:

  • 68% ehemalige Zeugen Jehovas
  • 9% Freikirchen
  • 3% Pfingstgemeinden
  • 20% andere Gemeinschaften

Wie es in der Zusammenfassung der Studie mit dem Titel "Identifikation von unterschiedlichen Wohlbefindens-Profilen sowie Resilienz-Merkmalen bei ehemaligen Mitgliedern unterschiedlicher fundamentalistischer christlicher Glaubensgemeinschaften" heißt:

Die Mehrheit der Teilnehmenden (65%) wurde in die jeweilige Gemeinschaft hineingeboren.
Während ihrer Mitgliedschaft vermieden 70% der Teilnehmenden den Kontakt zu Nichtmitgliedern, einschliesslich Freunden und Familie. Die meisten Personen verliessen die Gemeinschaft freiwillig (81%), 16% wurden ausgeschlossen, die übrigen Personen (3%) gaben "anderes" als Grund an (z. B. Auflösung der Gemeinschaft). Mehr als die Hälfte der Teilnehmenden (51%) verliess die Gemeinschaft zur gleichen Zeit wie eine ihnen nahestehende Person.

Das Ziel der Studie war, herauszufinden,

  1. ob sich unterschiedliche Wohlbefindens-Profile bei ehemaligen Mitgliedern von unterschiedlichen fundamentalistischen christlichen Glaubensgemeinschaften zeigen
    unb
  2. ob sich diese Profile bezüglich ihrer Resilienz/Stresswiderstandskraft und anderen Merkmalen (z. B. Mitgliedschaft-bezogene Merkmale) voneinander unterscheiden

1. Was waren die Ergebnisse der Studie?

Durch die Fragestellungen der Studie wurden die Teilnehmer in vier Gruppen eingeteilt, was ihr Wohlbefinden angeht:

  1. das "normative" (durchschnittliche) Profil = 36% der Teilnehmer
  2. das "resiliente" (widerstandsfähige) Profil = 26% der Teilnehmer
  3. das "vulnerable" (gefährdete) Profil = 27% der Teilnehmer
  4. das "aversive" (belastete) Profil = 11% der Teilnehmer

1.1. Worin unterschieden sich die Gruppen?

Es wird ausgeführt, dass Unterschiede zu erkennen waren bezüglich:

Missbrauchs- / Misshandlungserfahrungen: Obschon in allen Profilen von solchen Erfahrungen berichtet wurde, wies das "aversive" Profil die höchste Wahrscheinlichkeit auf, Missbrauch oder Misshandlung als Ausstiegsgrund anzugeben (52%), gefolgt von den Profilen "vulnerabel " (33%), "normativ" (22%) und "resilient" (16%). Trotz der ebenfalls berichteten Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen im "normativen" und "vulnerablen" Profil, könnten bei diesen beiden Profilen, die im Vergleich zum "aversiven" Profil stärker ausgeprägten Resilienzfaktoren einen entgegenwirkenden/schützenden Einfluss ausüben.

Alter: Im "resilienten" Profil war der Altersdurchschnitt am höchsten (44 Jahre).

Die "resiliente" Gruppe hat dabei nicht nur das höchste Alter im Vergleich, sondern zusätzlich förderliche Persönlichkeitsmerkmale und Ressourcen (z.B. höhere emotionale Stabilität; Möglichkeiten Gedanken und Verhalten zu beeinflussen; soziale Unterstützung).

Zudem beinhaltete das "resiliente" Profil eher Personen höheren Alters sowie solche, die nicht Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen als Ausstiegsgrund angaben.

Das "aversive" Profil dagegen hat weist die höchste Wahrscheinlichkeit auf, dass hier Missbrauchs- und Misshandlungserfahrungen als Ausstiegsgrund angegeben werden.

1.2. Was keinen Einfluss auf das Wohlbefinden erkennen ließ:

Die vier Wohlbefindens-Profile zeigten keine Unterschiede bezüglich:

  • Grund des Beitritts (ob jemand in die Gemeinschaft hineingeboren ist oder nicht)
  • der Dauer der Mitgliedschaft
  • dem Ausmaß des Engagements während der Mitgliedschaft
  • dem Grund für den Austritt (d. h. freiwilliger Austritt versus Ausschluss)
  • der sozialen Unterstützung während des Austritts
  • der vergangenen Zeit seit dem Austritt

Persönlich finde ich diese Ergebnisse überraschend, dass z.B. die Zeit seit dem Austritt keinen Einfluss auf das Wohlbefinden hat. Ich hätte erwartet, dass mit längerer Dauer seit Austritt das Wohlbefinden steigt. So ganz nach dem Motto: "Die Zeit heilt alle Wunden" (sofern Wunden vorhanden waren).

1.3. Was hilft nach dem Austritt dem Wohlbefinden?

Tatsächlich scheint die Zeit hier also weniger ein Faktor zu sein, als beispielsweise die eigene Initiative, bzw. Faktoren, welche das frühere Mitglied teilweise selbst in der Hand hat. In der Studien-Zusammenfassung wird dazu nämlich ausgeführt:

In der Studie hat sich gezeigt, dass das aktuelle Wohlbefinden nach Ausstieg/Ausschluss mit unterschiedlichen Faktoren im Zusammenhang steht. Wichtig ist zu erwähnen, dass einige dieser Faktoren bis zu einem gewissen Grad durch die Personen selbst beeinflusst werden können (z. B. das Selbstwertgefühl oder auch die Fähigkeit, unterschiedliche Perspektiven zu übernehmen oder Zusammenhänge im größeren Kontext zu verstehen). Diese potentiell veränderbaren Faktoren sind mögliche Ansatzpunkte, an welchen angesetzt werden kann um ehemalige Mitglieder mit einem tiefen Wohlbefinden nach einem Ausstieg aus oder Ausschluss von einer fundamentalistischen christlichen Glaubensgemeinschaft zu unterstützen.

2. Bessere Gesundheit nach dem Ausstieg?

Was ist zu erwarten in Bezug auf gesundheitliche Faktoren? Hier noch ein Auszug aus den Studienergebnissen:

Was den allgemeinen Gesundheitszustand betrifft, berichteten etwa zwei Drittel der Personen rückblickend von einer verbesserten psychischen und fast die Hälfte von einer verbesserten körperlichen Gesundheit nach dem Austritt/Ausschluss. Im Vergleich dazu berichtete etwa ein Drittel rückblickend über eine Verschlechterung der psychischen und ein Fünftel über eine Verschlechterung der körperlichen Gesundheit. Diese Veränderungen weisen darauf hin, dass der Austritt aus/Ausschluss von solchen religiösen Gruppen ein bedeutendes Lebensereignis darstellt, welches mit dem Wohlbefinden von ehemaligen Mitgliedern im Zusammenhang steht.

Persönlich kann ich mir diese Ergebnisse ganz gut erklären. Meiner eigenen Erfahrung nach und nach den Berichten anderer Aussteiger höre ich oft, dass man sich (im Beispiel Zeugen Jehovas) mehr unter Druck gesetzt hat bestimmte Vorgaben zu erfüllen, als dies nach dem Ausstieg der Fall ist (z.B. eine bestimmte Anzahl Stunden zu predigen, die Aufgaben als Ältester möglichst gut zu erfüllen, der Pionierdienst etc.). Von Freunden und Familienangehörigen habe ich oft genug erfahren, dass sich diese gestresst fühlen, körperlich und / oder psychisch belastet sind. Auch die kognitive Dissonanz und die damit verbundenen Schwierigkeiten währen der "Trennungsphase" sind nicht zu unterschätzen. All das fällt anschließend weg und man kann nun selber festlegen, wie man die Woche plant, wie man Gottesdienste besucht oder nicht, eine Gemeine unterstützt oder nicht usw. 

Dass für einen noch geringen Teil der Aussteiger aufgrund z.B. der Trennung von Freunden, Familie und möglicherweise einem "verlorenen Sinn" im Leben zusätzliche psychische und körperliche Belastungen auftreten halte ich jedoch auch für absolut nachvollziehbar, was sich in dem Zitat ja leider zeigt. Persönlich freut es mich zwar, dass die positiven Ergebnisse und Veränderungen überwiegen doch ich hoffe, dass eine genauere Untersuchung der förderlichen Faktoren künftig noch gezieltere Hilfestellung bieten kann, sich in der neuen Situation zurechtzufinden und glücklich zu werden.

Es stehen noch weitere Veröffentlichungen zu dieser Studie an - und möglicherweise bietet diese Studie eine neue Basis für weitere Forschung. Ich bleibe am Ball und werde künftig über neue Ergebnisse auf dieser Seite informieren.

Quellen: Thoma, M.V., Rohner, S.L., Heim, E., Hermann, R., Roos, M., Evangelista, K.W.M., Nater, U.M., & Höltge, J. (2022). Identifying well-being profiles and resilience characteristics in exmembers of fundamentalist Christian faith communities. Stress and Health, 1-XXX. https://doi.org/10.1002/smi.3157